Ist Streaming die neue Straßenmusik? Lucy May Walker erzählt

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Livemusik ist durch nichts zu ersetzen, aber für viele Künstler:innen sind Livestreams ihrer Performances derzeit die einzige Alternative. LUCY MAY WALKER erzählt, wie sie sich als hauptberufliche Musikerin während der Pandemie über Wasser hielt.

2019, als die Welt noch in Ordnung war, konnte ich gut von meiner Musik leben, hauptsächlich durch Liveauftritte. Als die Pandemie begann, war das ein totaler Schock. Wie viele andere Musiker:innen fühlte ich mich, als hätte ich von einem Tag auf den anderen meinen Job verloren.

Ich war sehr dankbar dafür, dass die britische Musikergewerkschaft und die Verwertungsgesellschaft PRS mich mit einigen Zuschüssen unterstützten, was mich während der ersten paar Monate über Wasser hielt. Aber als dieses Geld sich dem Ende zuneigte, wusste ich, dass ich mich schnell anpassen musste.

Als erstes begann ich damit, Performances über Facebook live zu streamen. Bei den ersten paar Sessions musste ich erst einmal herausfinden, wie das funktioniert, also nahm ich es nicht zu ernst und hatte einfach Spaß mit dem Publikum. Die Streams waren kostenlos, aber ich fügte auch einen PayPal-Link an, damit die Leute freiwillig etwas spenden konnten. Meine Fans waren unglaublich großzügig und ich begann mich zu fragen, weshalb ich zuvor noch nie gestreamt hatte.

Als ich vor einigen Jahren nach London zog, um meine Karriere zu starten, machte ich Straßenmusik, um etwas Geld zu verdienen. Ich spielte für alle, die mir zuhören wollten. Ich liebte es, aber schon vor der Pandemie gab es einige Veränderungen. Immer weniger Leute hatten Bargeld dabei, wegen der Londoner Beschränkungen für Straßenmusik gab es mehr Wettbewerb um die Spielorte – und auch das englische Wetter kann einem einen Strich durch die Rechnung machen.Ich hatte so langsam das Gefühl, den Spaß daran zu verlieren.

Eine Fangemeinde aufbauen

Der Wechsel von der Straßenmusik im „echten Leben“ zu Online-Performances ist nicht einfach, und ich möchte betonen, dass es nicht immer funktioniert. Wenn du noch nicht online präsent bist und kein aktives Publikum hast, ist es viel schwieriger, ausreichend Leute für eine Performance zusammen zu bekommen und Geld zu verdienen.

Als ich mit dem Streamen angefangen habe, habe ich für Leute gespielt, die mich schon kannten und mochten. Dadurch war die Hälfte schon geschafft und ich musste nicht erst Unbekannte davon überzeugen, mir eine Spende zu schicken. Die Leute haben extra eingeschaltet, um mich spielen zu sehen.

Als aus Wochen der Pandemie Monate wurden, haben mein Manager und ich darüber nachgedacht, wie ich online weiterhin aktiv bleiben könnte und wie die Performances weiterhin interessant sein würden. Wir haben uns entschieden, einen privaten Gig auf Zoom zu veranstalten, bei dem ich von zu Hause aus eine exklusive Show gespielt habe. Die Leute wurden eingeladen, so viel für das Ticket zu bezahlen, wie sie mochten. Ich konnte die überwältigende Großzügigkeit meiner Fans kaum fassen.

Mir war es immer wichtig, die Ticketpreise niedrig zu halten, weil ich möchte, dass so viele Leute wie möglich meine Shows besuchen können. Aber dieses Konzept hat mit etwas gezeigt, das ich sonst vielleicht niemals herausgefunden hätte. Auf diese Weise habe ich erfahren, wie viel den Menschen meine Show wert war! Außerdem bedeuteten die geringen Kosten einer Online-Show, dass ich mit zwei Zoom-Gigs mehr Geld verdienen konnte als jemals zuvor bei einer Show im „echten Leben“.

Twitch entdecken

Da kein Ende der globalen Pandemie in Sicht war und es noch lange dauern würde, bis ich andere Menschen treffen konnte, habe ich den Silvesterabend damit verbracht, mich intensiver mit Twitch zu beschäftigen. Ich hatte es schon ein wenig für meine Songwriter Series genutzt, bei der ich jede Woche einen anderen musikalischen Gast hatte, mit dem ich Ideen und selbst geschriebene Songs ausgetauscht und allgemein über Musik gesprochen habe.

Dafür habe ich eine Plattform namens Streamyard genutzt, über die ich gleichzeitig auf mehreren Kanälen streamen konnte. Ich habe die Serie über Facebook, YouTube und Twitch gestreamt. Bis dato hatte ich mich noch nicht wirklich mit Twitch beschäftigt, aber ich bekam einige Kommentare, dass es eine tolle Plattform sei und die Zuschauer glücklich wären, mich dort zu sehen. Am Ende der Serie dachte ich aber dennoch, dass das mein letzter Stream auf Twitch gewesen wäre. Bis mein guter Freund und Musikerkollege John Clapper begann, dort zu streamen.

Neue Fans gewinnen

Das Problem, auf das ich bei herkömmlichen Kanälen wie Facebook und Instagram stieß, war, dass man darüber zwar hervorragend die bestehenden Fans erreicht, aber es praktisch unmöglich ist, neue zu gewinnen. Twitch hingegen scheint Wert auf die Entdeckung neuer Künstler:innen und Streamer:innen zu legen. Neben der „Discovery“-Serie, auf der man sich durchklicken und Künstler:innen entdecken kann, die gerade live sind, gibt es ein tolles Feature namens „Raids“.

Ein „Raid“ findet gegen Ende eines Streams statt, wenn man fast fertig ist, und ermöglicht es, einen anderen Streaming-Kanal zu „stürmen“. Wenn ich zum Beispiel 20 Leute auf meinem Stream habe, kann ich diese 20 Personen zu einem anderen Livestream schicken, sodass diesem Kanal nun 20 Leute mehr zusehen. Für mich ist das das Besondere an Twitch. Ich habe es geschafft, das Publikum meines Kanals in etwas mehr als einem Monat von Null auf über tausend Follower zu steigern – und 90 Prozent davon hatten meine Musik noch nie gehört! Auf YouTube hatte ich Jahre gebraucht, bis ich die gleiche Zahl von Abonnenten erreicht hatte.

Twitch gehört zu Amazon, und obwohl sie einen beträchtlichen Teil der Einnahmen in Form von Twitch-Währung einbehalten (etwa 50 Prozent), kann es dennoch eine tolle Einkommensquelle sein, die man bequem von zu Hause aus ausschöpfen kann.

Anpassung online

Das Feature, eine Setlist online zu stellen, aus der Zuschauer auswählen können, hat mich auch dazu gebracht, meine Komfortzone zu verlassen, neue Songs zu lernen und mein Repertoire für zukünftige Gigs im „echten Leben“ zu erweitern. Natürlich bedeutet es viel Aufwand, immer dabei zu bleiben, aber wenn man das Spiel mitspielt und die Mühe nicht scheut, kann man wirklich davon profitieren. Ich weiß, dass ich auch nach der Pandemie weiter auf Twitch streamen werde – besonders an regnerischen Tagen, wenn ich keine Straßenmusik machen kann!

Wenn ich mein Leben als Musikerin während der Corona-Zeit mit einem Wort beschreiben müsste, würde ich sagen: Anpassung. Es war eine Zeit des Ausprobierens, der harten Arbeit und der Hartnäckigkeit. Einige Künstler:innen scheinen in der Pandemie in eine Art Winterschlaf gefallen zu sein, und das ist absolut verständlich. Für mich war jedoch klar, dass ich ohne die Musik und die Möglichkeit, mit Menschen in Kontakt zu treten, im Laufe dieses schwierigen Jahres irgendwann

wahnsinnig geworden wäre. Ich möchte all den wunderbaren Menschen danken, die nicht aufgehört haben, mich zu unterstützen – nichts davon wäre ohne ihre Großzügigkeit möglich gewesen.

Folge Lucy auf Instagram: @LUCYMAYWALKER